POLITIK Jugendliche diskutieren nicht nur, sie halten eine „echte“ Ratssitzung ab – Gern mehr Geschäfte in der Stadt
Für eine Entbindungsstation, mehr Busverkehr und mehr Feste in Norden.
NORDDEICH/ISH – Mit der Seilbahn von Norddeich nach Juist? Unabhängig sein von der Tide, den Leuten dadurch eine komplett neue Sicht auf das Meer ermöglichen?

So vehement die Schüler und Schülerinnen des Norder Ulrichsgymnasiums ihren Antrag auch verteidigten und begründeten, eine Mehrheit fanden sie dafür nicht. Aber die Idee war ein Zeichen, dass sich Jugendliche mit ihrer Stadt auseinandersetzen,ungewöhnliche Ideen einbringen, Vorschläge machen – sowie jetzt beim Planspiel „Pimp your Town“, das gestern im Norddeicher Haus des Gastes zu Ende ging.

Pimp steht für Aufmotzen – und so haben die Neuntklässler der KGS Hage-Norden und des Ulrichsgymnasiums sowie die Berufsschulklasse Sozialassistenz der Conerus-Schule die letzten drei Tage auch genutzt. Haben sich in Ausschüssen überlegt, was in Norden getan werden sollte und schließlich in einer Ratssitzung sich über die Punkte, die ihnen am wichtigsten erschienen, noch einmal ausgetauscht, um dann darüber abzustimmen.
Unter der Leitung von Hermann Reinders, der auch im„echten“ Rat der Stadt den Vorsitz hat, arbeiteten sie sich in mehr als zweieinhalb Stunden durch die gesammelten Tagesordnungspunkte.
Der Verein „Politik zum Anfassen“ organisiert seit zehn Jahren solche Workshops, um Jugendliche für Politik zu interessieren.Gestern hatten Dorothea Meyer und Nina Kaufmann alle Hände voll zu tun. Die beiden liefen mit Headsets von Redner zu Redner, damit das Plenum jeden auch verstehen konnte. Mit 74 „Ratsmitgliedern“war der Saal sehr gut gefüllt.
Und sie diskutierten,nach einer kleinen „Aufwärmphase“, in der sie sich unter anderem nahezu einstimmig für mehr Geschäfte in der Stadt, intakte Bushäuschen und zusätzliche Toiletten am Strand in Norddeich ausgesprochen hatten, ernsthaft und – je weiter die Zeit fortschritt – immer kontroverser. Mit beschriebener Seilbahn konnten sich nur die Ulricianer anfreunden, die Ratskollegen zweifelten dann doch an der Umweltfreundlichkeit, wenn man im Naturschutzgebiet die Halterungen anbringen muss. „Es wäre cool,aber unrealistisch“, fasste es Justin zusammen. Das Mitglied des Jugendparlamentes der Stadt gab zu fast allen Tagesordnungspunkten seine Stellungnahme ab. Nicht nur gegen die Seilbahn war der KGS-Schüler, auch für die Idee mit der regionalen Milchmarke konnte er sich nicht erwärmen. Auch dieser Antrag aus den Reihen des Ulrichsgymnasiums fand keine Mehrheit, obwohl KGS-Schülerin Teeske die Idee, eine eigene Milchmarke in der Stadt zu etablieren und einen Teil des Erlöses an Flüchtlingsorganisationen zu spenden, „eigentlich gut“ fand. „Viele Parteien könnten profitieren“, sagte sie, denn auch die beteiligten Landwirte sollten gut honoriert werden. 22 Ratsmitglieder unterstützten den Plan schließlich, 26 aber fanden andere Möglichkeiten, Flüchtlingen zu helfen, besser. Und es gab dazu mehrere Stimmen, die von Hilfsmaßnahmen berichteten, die fehlgeschlagen seien.
Alle anderen Anträge gingen aber durch. Und das bedeutet: Die Mehrheit der Jugendlichen, die in Norddeich tagten, wünschen sich zum Beispiel eine bessere medizinische Versorgungin der Stadt,vor allem fordern sie eine Entbindungsstation. Die Notaufnahmen seien überlastet, hieß es außerdem, und Pflegepersonal habe keine Zeit für die Bedürfnisse der Patienten, es sei überfordert. Junge Auszubildende und manche Schüler wünschen sich preisgünstige Wohnmöglichkeiten. Mehr Sozialwohnungen müssten her, hieß es.
Ganz wichtig: Die jungen Leute möchten eine saubere Stadt und ihnen ist es wichtig ,Anreize zu schaffen, Müll auch zu vermeiden. So fand die Idee, gelbe Tonnen mit Plastikmüll im zwei-Wochen-Rhythmus zu leeren, keine Mehrheit, wohl aber die Initiative, mehr Müllbehälter insgesamt im Stadtgebiet aufzustellen. Und: Ein sauberer und schönerer Strand in Norddeich soll her. Genauer formuliert war der Antrag aus den Reihen der KGS nicht.
Gern hätten die Jugendlichen flexiblere Busfahrpläne und überhaupt mehr Busverbindungen raus aus der Stadt in die Dörfer. Dazu gern bessere, schlaglochlose Straßen, die sämtlich im Winter gestreut werden. „Manche Busse fahren nicht alle Straßen an“, wusste Sven von KGS-Mitschülern zu berichten, die während der Eistage die Schule nicht besuchen konnten. Die Radfahrerfreunde möchten gern wissen, welche Radwege für die Zukunft geplant sind, und sie alle wollen – wenn auch im Detail mit unterschiedlichen Ansätzen – mehr getan wissen für die Interessen der Jugend. Toll fänden sie alle ein „Jumphouse“, das einige schon mal in Hamburg ausprobiert haben. „Das motiviert auch Unsportliche“, hieß es. Ein Trampolin am Meer – fänden sie auch fast alle klasse. Eigentlich wünschen sie sich zumeist vor allem mehr „action“ in der eigenen Stadt. Feste mit Themen, die auch Jugendliche interessieren, zum Beispiel.
Zum Thema „Disco“ wurde zum Schluss noch einmal heiß diskutiert. Während die – älteren– Conerus-Schüler fast unisono Discobetrieb für alle unter 16 für überflüssig hielten und auf das Jugendhaus verwiesen, konterte Justin damit, dass es schließlich schon vor 30 Jahren eine Jugenddisco gegeben habe. Man wolle einfach einen Ort, wo man gemeinsam Spaß haben könne, versuchte Neele zu erklären.Tatsächlich konnte sich auch hier die Mehrheit der Jüngeren durchsetzen. Die befürwortete den Antrag auf eine Disco in Norden – auch mit vorübergehenden Öffnungszeiten für alle, die noch keine 16 Jahre alt sind.
Ernsthaft diskutiert wurde auch über den Antrag, einen Tampon- und Bindenautomaten zum Beispiel an öffentlichen Toiletten und in Schulen aufzustellen. Interessanterweise waren es auch Mädchen, die daran nichts Sinnvolles finden konnten und neben Justin etliche andere Jungen, die die Idee klar befürworteten. Die Mehrheit war jedenfalls dafür...
Nicht nur Projektleiterin Julia Franz vom Verein „Politik zum Anfassen“ war am Ende von den regen Diskussionsbeiträgen begeistert, auch die vielen „echten“ Ratsmitglieder waren voll des Lobes – auch für Tina Schipper vom hiesigen Bildungs- und Kooperationsprojekt (NiKo), die die Organisation vor Ort übernommen hatte. Über NiKo und das Bundesprogramm „Partnerschaftliche Demokratie“wurden die drei Politiktage finanziert.

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 23.01.2016, Seite 4.