„Uns gibt es eigentlich nicht“, beschwert sich Julia, Reiseführerin in Minsk, „zumindest nicht im Bewusstsein der Westeuropäer und Amerikaner. Und für die russischen Touristen, die tatsächlich nach Belaruss kommen, gehören wir als ehemalige Sowjetrepublik eigentlich zu Russland.“ Tatsächlich ist für viele Westeuropäer Belaruss bzw. Weißrussland ein weißer Fleck auf der geistigen Landkarte, und das ist schade, denn Belaruss hat viel zu bieten. Dies erlebte auf eine sehr intensive Weise eine Schülergruppe, die vorwiegend aus Oberstufenschülern der Russischkurse des Ulrichsgymnasiums bestand und die, um ihre russischen Sprechkompetenzen zu verbessern und um Land und Leute kennenzulernen, zu einem Schüleraustausch vom 30. April bis 7. Mai nach Minsk gereist war.

Die zehn Schüler, die von ihren Russischlehrern Martina Jürgens und Johannes Thiele begleitet wurden, begannen die Reise morgens am Norder Bahnhof. Mit dem Zug statt mit dem Flugzeug nach Weißrussland – das ist nicht nur billiger, sondern die Reisenden bekamen so auch ein Gefühl für die Distanz, sahen, wie die Landschaft sich veränderte und fanden schon während der Reise als Gruppe zueinander.
Die erste Unterbrechung gab es um 22 Uhr in Warschau, wo die Nacht in einer Jugendherberge verbracht wurde. Am nächsten Tag besichtigten die Schüler bei strahlendem Sonnenschein die polnische Hauptstadt. Als besonders beeindruckend erwiesen sich die Aussicht vom 30. Stockwerk der Aussichtsterrasse des Kulturpalastes und die wunderschöne Altstadt. Nach einem gemeinsamen Abendessen nahm die Gruppe den Nachtzug nach Minsk.

Ein russischer Nachtzug ist etwas Besonderes. Die Betten sind relativ breit und gemütlich, es gibt ein Waschbecken, einen Behälter mit heißem Wasser für die Zubereitung von Tee und für jeden Reisenden Schlappen und eine Zahnbürste. Aber man steigt nicht einfach ein. Am Einstieg jedes Wagons wacht ein Zugbegleiter, ob man einen gültigen Pass und ein Visum neben der Fahrkarte hat. Und bei der Ankunft in Brest, wo die Räder auf die größere russische Schienenspur umgestellt werden, machten die an den Schengenraum gewöhnten Schüler buchstäblich neue Grenzerfahrungen: Grimmig blickende weißrussische Grenzpolizisten kontrollierten die Papiere, verglichen lange die erschrockenen Gesichter mit dem Foto des Reisepasses, scheuchten alle aus dem Abteil, um es gründlich unter den Sitzen auszuleuchten und durchsuchten das Gepäck. Die nächste Herausforderung wartete auf die Jugendlichen bei der Ankunft morgens in Minsk. „Ob mein Russisch für die Verständigung reicht?“ „Wie ich wohl untergebracht werde?“ „Hoffentlich ist meine Gastfamilie nett!“ Diese Gedanken und Befürchtungen gingen fast allen durch den Kopf. Aber dann wartete auf die Deutschen ein sehr herzlicher Empfang. Sie wurden zuerst von den weißrussischen Familien mit nach Hause genommen, wo sie sich einrichten und mit allen Familienmitgliedern bekanntmachen konnten. Und dann startete bereits am ersten Tag ein sehr umfassendes und eng getaktetes Programm.
Den deutschen Gästen wurde zuerst ein Willkommenskonzert geboten, in dem viele Schüler mit einem musischen und sportlichen Schwerpunkt ihr Talent unter Beweis stellten. Weißrussische und russische Tänze und Lieder vermittelten bereits einen ersten Eindruck von der kulturellen Vielfalt des Landes. Obwohl die kleine deutsche Schülergruppe sich etwas verloren in dem großen Zuschauersaal vorkam, bemühte sie sich, die schöne Vorstellung mit lautem Beifall zu belohnen.

Den Jugendlichen wurden in den folgenden Tagen viele Sehenswürdigkeiten gezeigt. Zum Beispiel die riesige, komplett mit spiegelnden Fenstern verkleidete Nationalbibliothek in Form eines geschliffenen Diamanten, die über sieben Millionen Medien und ein schnelles System der Medienbeschaffung birgt. Die außergewöhnliche Architektur symbolisiert den Stellenwert des gedruckten Wortes. Außerdem enthält die Nationalbibliothek ein Museum mit besonders alten und außergewöhnlichen Büchern sowie Empfangsräume des Präsidenten Lukaschenko. Von der Aussichtsplattform auf dem Dach konnte man den Blick auf die abendliche Metropole genießen.

Genauso schön war aber auch, sozusagen als Kontrastprogramm, der Besuch einer Bibliothek nur für Kinder, die liebevoll mit kleinen Holzhäuschen nach dem schwedischen Roman „Karlson auf dem Dach“ ausgestattet war. Dort bastelten die deutschen und weißrussischen Schüler kleine traditionelle Püppchen aus Wollfäden, die, wie man in Belaruss weiß, Glück bringen. Die Besichtigung der Stadt überwältigte alle. Das nach dem zweiten Weltkrieg fast komplett zerstörte Minsk wurde auf dem Reißbrett entworfen und die großen Prachtstraßen und nach stalinistischer Manier entworfenen Paläste wie z. B. das Gebäude des KGB sind sehr beeindruckend. Schön fanden die Schüler aber auch die rekonstruierte Altstadt mit den weißen Kirchen, anheimelnden Plätzen und hübschen Häusern. Als besonders sehenswert erwies sich auch das Museum für weißrussische Kunst.
Bei Ausflügen außerhalb der Stadt in das Museum der alten Handwerke „Dudutki“ konnten die Jugendlichen selbst gemachtes Brot und selbst hergestellten Käse probieren und traditionelle Handwerker wie Weber, Schmiede und Korbflechter bei der Arbeit beobachten, in einem anderen Freilichtmuseum erfuhren sie viel über das frühere Leben im weißrussischen Dorf. Abends ging es ins Theater oder es wurde etwas mit der Familie unternommen.
Einen besonderen Stellenwert hatte für alle die weißrussische Küche: Es gab leckere Blini, Draniki und andere Spezialitäten!

Aber ein ganz besonderes Erlebnis war der eine Tag, den man in der Partnerschule verbrachte. Die Minsker Schule Nr. 9 wird von 1700 Schülern von der 1. bis zur 11. Klasse besucht. Die Räume werden optimal ausgenutzt, indem eine Hälfte der Schüler die Räumlichkeiten vormittags nutzt, die andere Hälfte geht nachmittags zur Schule.
Die deutschen Schüler besuchten den Unterricht in den Fächern Russisch, Weißrussisch und Mathematik. Und sie merkten schnell, dass Schule in Belaruss ganz anders als in Deutschland ist. In einer weißrussischen Klasse herrscht Disziplin und Ordnung. Die deutschen Jugendlichen verfolgten staunend, wie die weißrussischen Schüler kerzengerade und still am Pult saßen, die Hände sichtbar auf dem Tisch und wie sie bei jedem Wortbeitrag aufstanden. Sie standen auch auf, wenn jemand die Klasse betrat oder verließ. Niemand redete mit dem Nachbarn, alle blickten auf den Lehrer, der nie und unter keinen Umständen lächelte und sehr streng wirkte! Der Unterricht selbst bestand im Wesentlichen aus dem Abfragen einer zuvor gelernten Lektion, und alle waren gut vorbereitet. Sämtliche weißrussischen Schüler waren adrett und fast einheitlich gekleidet, die Mädchen, deren Haare in geflochtenen Zöpfen oder in einem Dutt gebändigt waren, erschienen in Rock und Bluse, die Jungen mit Kurzhaarschnitt steckten zumeist im Anzug. Turnschuhe und Pullover sind verpönt.
Viele Fächer entsprechen dem deutschen Kanon. Aber in Weißrussland gibt es auch ein besonderes Fach, das die deutschen Gymnasiasten nicht kennen: Die Jungen lernen in „Werken“, wie man mit Holz und Metall arbeitet, während sich die Mädchen mit „Handarbeit“ beschäftigen.

Jeder Tag brachte viele neue und spannende Eindrücke, mit jedem Tag kamen sich die deutschen und weißrussischen Jugendlichen näher.
Und als dann nach einer Woche viel schneller als gedacht der Tag der Rückfahrt kam, flossen viele Tränen, bei den weißrussischen Jugendlichen auf dem Bahnsteig genauso wie bei ihren deutschen Austauschpartnern im Zug. Aber glücklicherweise wird ja bereits im September der Gegenbesuch der weißrussischen Schüler in Ostfriesland erfolgen, wo sich dann alle wiedersehen werden.