GEDENKFEIER Norder Jugendliche versetzen sich in die Lage jüdischer Heranwachsender in den 1930er-Jahren
Rund 100 Besucher kamen zur gestrigen Gedenkfeier in den Synagogenweg.
NORDEN/ISH Sie hießen Gerda oder Siegfried, Frenzel, Recha oder Simon. Sie waren Kinder, sie wollten spielen, ins Schwimmbad gehen, Freunde treffen. Warum ging das von einem Tag auf den anderen nicht mehr?

„Ich will kein Jude mehr sein!“ Wie viele Kinder haben das wohl in den 1930er-Jahren zu ihren Eltern gesagt, weil sie plötzlich zu Außenseitern gemacht worden waren? Diese Fragen haben sich auch die neun Schüler und Schülerinnen vom Norder Ulrichsgymnasium gestellt, die gestern die Gedenkfeier am Norder Synagogenweg mitgestaltet hatten. Die Jugendlichen gehören zur Arbeitsgruppe Relais de la mémoire vom Norder Ulrichsgymnasium, betreut von ihrer Lehrerin Petra Drüke. Sie sind selbst erst 15, 16, 17 Jahre alt. Gestern versetzten sie sich in die Lage der Kinder aus Norden, die vor 1933 über den Neuen Weg und durch die Uffenstraße getobt waren, die Fußball spielten, fröhlich in den Tag hinein lebten. Bis die Nazis an die Macht kamen.
„Heute vor 78 Jahren haben SA-Männer die Norder Synagoge in Brand gesteckt“, sagte Walter Demandt vom Ökumenischen Arbeitskreis Synagogenweg,der alljährlich zu der rund halbstündigen Gedenkfeier einlädt. Dorthin, wo damals die Synagoge noch stand, in der Erwins Papa immer sang. Erwin, der damals vier Jahre alt war. Werner war sechs, Recha Schönthal 18. Sie durfte ihren Freund Johann nicht mehr treffen, der war Arier. „Nur ein paarmal heimlich. “ So erzählen die Norder Jugendlichen an diesem Abend. „Wie war das Leben der Kinder, wie haben sie sich gefühlt?“, fragen sie vor den rund 100 Besuchern. „Hatten sie Angst?“
Sie ist noch spürbar, diese Angst, eine halbe Stunde lang wird sie noch einmal greifbar. „Vater spricht nicht mehr“, erzählt eine Schülerin in der Rolle des kleinen Werner. „Mutter weint.“ Und warum man wohl nicht mehr zum Fußball gehen dürfe. Und überhaupt: „Vater ist jetzt immer zu Hause.“ Warum?
Die Läden der jüdischen Mitbewohner waren geschlossen, die Kinder durften nicht mehr allein raus, beste Freunde und Freundinnen wurden getrennt. Wie sollten die Drei-, Vier-, Zehnjährigen das verstehen? „Ich habe doch nichts getan!“
Die Norder Jugendlichen gaben mit kurzen, aber sehr eindringlichen Sätzen wieder, was damals in den Häusern dauerhaft zu spüren gewesen sein muss. Die Kinder, die wussten, dass sie die Stadt verlassen müssen: „Dabei gefällt es mir doch so gut in Norden.“
Die Hoffnungen, dass es anderswo besser werden würde, trogen. Ob Gerda oder Werner, Siegfried, Frenzel oder Recha – sie alle kamen um, wurden in Lager deportiert, ermordet. Nur Simon überlebte Auschwitz und Buchenwald.
Der Posaunenchor der Ludgeri-Kirchengemeinde spielt „Trauriges Stück“. Denn eigentlich gibt es nichts mehr zu sagen. Die Worte, die die Norder Jugendlichen den Besuchern mit auf den Weg gegeben haben an diesem 9. November 2016, sind nachhaltig genug. Was geschehen sei, dürfe niemals vergessen werden, habe der älteste Sohn der Norder Jüdin Hilda de Lowe gemahnt, erzählte Walter Demandt von Jacks Brief, zur diesjährigen Gedenkfeier. 2008 war er selbst einmal hier zu Gast gewesen.
Niemals vergessen – aber auch: das Heute einbeziehen. Das machte Demandt in seiner kurzen Ansprache deutlich. „Immer noch werden an vielen Orten, zum Beispiel in Syrien und auch in der Türkei, die Menschenrechte mit Füßen getreten“, sagte er. Am Schluss sprach Demandt ein Gebet von Sylvia Bukowski, darin sie unter anderem fragt: „Wo sind wir, wenn es gilt, für bedrohte Menschen einzutreten?“ Heißt wohl – wir alle sind auch heute gefordert und gefragt, zu helfen und uns zu engagieren. Für die Menschen.

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 10.11.2016, Seite 3.